22.5.09

Als Demjanjuks Verfolger einen fatalen Fehler machten

Freispruch 1993
Er war zum Tode verurteilt und kam davon: Vor mehr als 20 Jahren stand John Demjanjuk in Israel vor Gericht. Doch am Ende des Verfahrens wurde jener Mann, dem jetzt in Deutschland wieder der Prozess gemacht werden soll, freigesprochen. Die Geschichte eines spektakulären Ermittlungsfehlers. Von Cordula Meyer und Axel Frohn
Die Richter hatten gerade erst ihr Urteil verkündet, da feiern die Israelis im Gerichtssaal schon frenetisch: "Tod, Tod, Tod!", rufen Teenager rhythmisch: Für sie gibt es keinen Zweifel: Der Mann vor ihnen auf der Anklagebank ist ein Massenmörder, ein Schlächter, "Iwan der Schreckliche", verantwortlich für den Tod tausender Juden im Zweiten Weltkrieg. Der Mann, dessen Todesurteil für so viel Freude sorgt, heißt John Demjanjuk. Kurz nach dem Urteil wird der Galgen für ihn gebaut.
 
Das war 1988 - vor mehr als 20 Jahren. John Demjanjuk lebt immer noch - und sorgt seit Monaten erneut für viel Wirbel. Nach langem Rechtsstreit wurde er jetzt aus den USA nach Deutschland geflogen, die Münchner Staatsanwaltschaft will ihm den Prozess machen - wegen Beihilfe zum Mord in 29.000 Fällen. So viele Menschen wurden im Vernichtungslager Sobibor ermordet, während Demjanjuk dort als Wachmann Dienst getan habe, so die Strafverfolger.
 
Doch in der in der medialen Aufregung um seine Auslieferung nach Deutschland ist der erste Prozess gegen Demjanjuk fast völlig in Vergessenheit geraten. Dabei zeigt er, wie schwierig es werden könnte, Demjanjuk zu verurteilen. Der saß in Israel sieben Jahre in einer Zelle - und sollte das Land dennoch als freier Mann verlassen.
 
Schwere Ermittlungsfehler, Irrtümer, unterdrückte Beweise
 
Die Wurzeln für diesen völlig überraschenden Ausgang, der damals für Israel zum Fiasko wurde, gehen bis in die siebziger Jahre zurück. Seit mehr als drei Jahrzehnten sind Nazi-Jäger dem heute 89-Jährigen auf der Spur. Sie ließen nicht locker - aber während dieser Zeit machten die Ermittler auch schwere Fehler, erlagen Irrtümern, und das US-Justizministerium unterdrückte sogar entscheidende Beweise.

Der erste Hinweis auf Demjanjuk stammt von einem seiner ehemaligen Kollegen. Ignat Daniltschenko, auch ein KZ-Wachmann, hatte bei seinem eigenen Kriegsverbrecherprozess in der Sowjetunion ausgesagt, er kenne einen Iwan Demjanjuk, der mit ihm zusammen in Sobibor und Flossenbürg Dienst getan habe. Die Amerikaner forschten nach und fanden Demjanjuks Einwanderungsakte: Als seinen Aufenthaltsort im Krieg hatte er "Sobibor" eingetragen - Standort eines Vernichtungslagers. Die US-Ermittler wurden hellhörig, aber mehr Indizien fanden sie nicht. Kein Sobibor-Überlebender in den USA konnte Demjanjuks Foto identifizieren. Also schickten die Kriminalisten das Foto mit 16 anderen Fotos verdächtiger Ukrainer nach Israel, damit sie KZ-Überlebenden vorgelegt werden konnten.
 
Per Zeitungsanzeige suchte die israelische Chef-Ermittlerin nach Zeugen aus den Todeslagern Sobibor und Treblinka. Keiner der Sobibor-Überlebenden erkannte ihn - allerdings ein Zeuge aus einem anderen Vernichtungslager, Abraham Goldfarb. "Iwan", sagte der Überlebende aus Treblinka und zeigte spontan auf das Foto mit der Nummer 16. "Aus wenigen Metern Entfernung" habe er gesehen, wie dieser Wachmann, "mit Eisenstangen und einem Bajonett", die Opfer in die Gaskammern trieb. "Wir Arbeiter nannten ihn Iwan Grozny, Iwan den Schrecklichen." Am Ende hat Israel sechs Augenzeugen, die auf Demjanjuks Foto "Iwan den Schrecklichen" aus Treblinka zu erkennen glaubten. Einen Mann, der Frauen auf dem Weg in die Gaskammer mit einem Bajonett die Brüste abschnitt. Eine mordlustige, meuchelnde Bestie. Einen Mann, der die Dieselmotoren für die Gaskammern anwarf, viele der 900 000 Treblinka-Toten mit eigenen Händen mordete.
 
Nichts darf den prestigeträchtige Fall kaputt machen
 
1977 wird in den USA ein Verfahren eingeleitet, um Demjanjuk die US-Staatsangehörigkeit zu entziehen. Das stärkste Beweismittel sind die ergreifenden Aussagen der Augenzeugen aus Treblinka. Außerdem findet die neugegründete Nazijäger-Einheit Office og Special Investigations (OSI) im US-Justizministerium einen Dienstausweis mit Demjanjuks Daten, der dessen Dienst als KZ-Wachmann bestätigt - aber eben in Sobibor und Flossenbürg, nicht in Treblinka. Um die Widersprüche auszuräumen, lässt das OSI sogar Demjanjuks mutmaßlichen Kollegen Daniltschenko durch sowjetische Beamte noch einmal vernehmen. Doch der verstärkt die Widersprüche noch und bleibt dabei, fast zwei Jahre zusammen mit Demjanjuk in Sobibor und Flossenbürg gewesen zu sein.
 
Die US-Nazi-Jäger vom OSI haben nun ein Problem. Die Treblinka-Überlebenden beteuern, Demjanjuk sei zur selben Zeit in Treblinka gewesen in der Daniltschenko mit ihm in Sobibor und Flossenbürg zusammen gearbeitet haben will. Die Geschichten passen nicht zusammen. Ein besonders penibler Ermittler, George Parker, schreibt seine Zweifel in einem langen Aktenvermerk an seine Chefs auf. Er nimmt an, dass die Augenzeugen sich geirrt haben müssen. "Selbst wenn es uns beruhigt, dass wir den richtigen Mann für die falsche Sache haben", schreibt Parker, "müssen wir aus ethischen Gründen unsere Position ändern." Der Fall müsse "radikal umgebaut" oder fallen gelassen werden.
 
Doch die Ermittler wollen sich den prestigeträchtigen Fall nicht kaputtmachen lassen. Sie ignorieren Parker, machen passend, was nicht passt und ersinnen eine "Transfer-Theorie": Demjanjuk sei zwischen den knapp 200 Kilometer entfernten Lagern Treblinka und Sobibor hin- und hergependelt. Im Juni 1981 wird Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft aberkannt. Zur gleichen Zeit verhandeln US-Beamte mit israelischen Kollegen allgemein über die Auslieferung von Nazi-Kriegsverbrechern. Sie sind sich einig, dass der Kandidat für ein erstes Verfahren "sehr sorgfältig ausgesucht" werden müsse. Die Israelis sind nicht an einem zweiten Eichmann-Prozess interessiert. Sie wollen diesmal keinen Vernichtungsbürokraten, für den zweiten Prozess in Israel soll ein Schlächter vor den Richter. Einer, der mit eigenen Händen gemordet hat. Demjanjuk scheint ideal.
 
Hunger, Schläge, Tod im Vernichtungslager
 
Im Februar 1987 beginnt der Prozess gegen ihn in einem Jerusalemer Theater. Jeder Gerichtssaal wäre zu klein. Schulklassen kommen in Bussen zur Verhandlung. Als die Überlebenden aussagen, wird ihr Auftritt auf Monitoren vor dem Gerichtssall übertragen. Die Zeugen erzählen vom unfassbaren Horror des Vernichtungslagers, vom Hunger, von den Schlägen und vom Tod überall. Ein Opfer geht ganz nah an Demjanjuk heran und sieht ihm direkt in die Augen. "Das ist Iwan", sagte er. "Ich sage es ohne den geringsten Zweifel."
 
Die Israelis wissen bis dahin nichts von Daniltschenkos Aussage, sie wissen nichts von den Zweifeln George Parkers. Aber sie haben den Dienstausweis Demjanjuks, in dem Sobibor verzeichnet ist. Der Staatsanwalt Michael Shaked wedelt sogar mit dem Dienstausweis in einer Klarsichthülle herum. Shaked versucht den Rentner klarzumachen, dass es ihn vor den Treblinka-Vorwürfen retten könnte, wenn er zugibt, in Sobibor gewesen zu sein. Doch Demjanjuk bleibt bei seiner Aussage, er sei Kriegsgefangener gewesen, unter anderem 18 Monate in einem Lager in Chelm - bis die Deutschen ihn für eine Kampfeinheit bei Graz angeheuert hätten. 1988 verurteilt ihn das israelische Gericht zum Tod durch den Strang - und löst damit den verfrühten Jubel aus.
 
Denn Demjanjuk geht in die Revision - und wird durch eine Kette von Zufällen gerettet. Erst stürzt einer von Demjanjuks Verteidigern von einem Hochhaus und stirbt, dann schüttet dem zweiten Verteidiger ein Holocaust-Überlebender Säure ins Gesicht. Nur knapp kann dessen Augenlicht gerettet werden. Während der sich von dem Attentat erholt, gewinnt Demjanjuk wertvolle Zeit - etwa anderthalb Jahre. In dieser Zeit fällt der Eiserne Vorhang, auf einmal sind ganz neue Recherchen möglich. "Mir ist klar, dass ohne das Material aus der Sowjetunion Demjanjuk exekutiert worden wäre", sagte Demjanjuk Verteidiger damals.
 
Identisch bis auf die Haarfarbe
 
Am Ende sind es Journalisten, Demjanjuks Angehörige, sowie der israelische Staatsanwalt selbst, die eine neue Wahrheit ans Licht bringen. Ein US-Reporter findet eine Maria Dudek in einem Dorf bei Treblinka, die berichtet, mit dem schrecklichen Iwan geschlafen zu haben, dem Betreiber der Gaskammern von Treblinka. Sein Name sei Iwan Martschenko, mit schwarzem Haar. Demjanjuk aber hat dunkelblondes Haar. Journalisten finden außerdem eine polnische Liste mit 43 Namen von Treblinka-Wächtern. Demjanjuk ist nicht dabei. Aber Martschenko. Demjanjuks Schwiegersohn treibt ein Hochzeitsfoto von Martschenko auf; es wird zum Beweismittel, denn Martschenko sieht Demjanjuk bis auf die Haarfarbe ähnlich. Dann tauchen noch Aussagen von mehr als 20 Wachmännern und Zwangsarbeiterinnen auf, die Iwan Martschenko als Betreiber der Gaskammer identifizierten.
 
Nach all dem weiß der israelische Staatsanwalt Michael Shaked, dass er selber nachermitteln muss. Er recherchiert in russischen und in deutschen Archiven. Als er nach Israel heimkehrt, hat er im Gepäck Aussagen von 37 Zeugen, die Martschenko als den Operateur der Gaskammern in Treblinka identifizieren. Dazu hat Shaked eine Kopie von Marchenkos Personalbogen und weiß, dass der KGB lange nach ihm als Kriegsverbrecher gesucht hatte. Es spricht alles dafür, dass Marchenko der berüchtigte "Iwan der Schreckliche" war. Und Demjanjuk? Für seinen Aufenthalt in Treblinka gibt es keine Hinweise. Auch die Kommandanten des Lagers können sich nicht an ihn erinnern. Aber für Demjanjuks Rolle in Sobibor hat Shaked neue Indizien gefunden. Viele davon sollen nun auch in München als Beweismittel dienen.
 
Shaked versucht nun, Demjanjuk wegen seiner mutmaßlichen Taten in Sobibor zur Verantwortung zu ziehen: "Wenn dieser Mann auch nur ein Kind in die Gaskammer geschoben hat, besteht irgendein Zweifel daran, ob er zur Verantwortung gezogen werden muss?" Aber das Revisionsgericht lehnt ab, Demjanjuk wegen Sobibor zu verurteilen - letztlich eine politische Entscheidung: Der israelische Generalstaatsanwalt wollte kein neues Verfahren führen, der Oberste Gerichtshof stützt diesen Kurs. Das wichtigste Argument: Niemand dürfe wegen derselben Sache zwei Mal angeklagt werden - und Sobibor sei auch Teil des ersten Prozesses gewesen.
 
Der vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs ließ zwar durchblicken, dass er es für wahrscheinlich halte, dass Demjanjuk "Hilfswilliger" der Nazis war. Aber: "Wachmann gewesen zu sein, ist nicht das Verbrechen", sagte er. "Sondern Völkermord."
 
Demjanjuk wird freigesprochen und verlässt am 22. September 1993 Israel an Bord einer El Al-Maschine in der Business Class. 1998 erhält er seine US-Staatsangehörigkeit zurück. Ein Foto aus dem Flugzeug von Israel zurück in die USA hat sich Demjanjuks Sohn John rahmen lassen. Es steht heute in seinem Büro.
 
© SPIEGEL ONLINE 2008

20.5.09

"Die DDR war vom Anfang bis zum Ende eine Diktatur"

INTERVIEW MIT HISTORIKER WINKLER
Gesine Schwan hält die DDR nicht für einen Unrechtsstaat - der Begriff sei zu diffus. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview widerspricht der Historiker Heinrich August Winkler der SPD-Präsidentschaftskandidatin - und fordert von den Westdeutschen mehr Sensibilität für das ostdeutsche Befinden.
 
SPIEGEL ONLINE: Herr Prof. Winkler, die SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan lehnt den Begriff des Unrechtsstaats für die DDR ab - er ist ihr zu diffus. Teilen Sie ihre Ansicht?
 
Heinrich August Winkler: Ich glaube, der Begriff Unrechtsstaat lässt sich klar definieren. Ein Unrechtsstaat ist nach meiner Überzeugung gegeben, wenn in einem Land die Menschen- und Bürgerrechte nicht gewährleistet sind, wenn keine Gewaltenteilung, also auch keine unabhängige Justiz existiert - wenn man also sein Recht nicht einklagen kann und auch keine Möglichkeit hat, in freien Wahlen gegen die Regierung zu stimmen. Alle diese Vorraussetzungen waren in der DDR nicht gegeben - also würde ich die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen. Der Unrechtsstaat beginnt nicht mit der systematischen Menschenvernichtung, er beginnt mit der Vorenthaltung der Menschen- und Bürgerrechte.
 
SPIEGEL ONLINE: Frau Schwan hat also Unrecht?
 
Winkler: Ich widerspreche ihrer Auffassung.
 
SPIEGEL ONLINE: Der brandenburgische SPD-Ministerpräsident Platzeck ist von der Diskussion genervt - und lehnt sie als Schwarz-Weiß-Debatte ab. Kann man diese Diskussion führen, ohne die Grautöne in der DDR zu berücksichtigen?
 
Winkler: Platzeck sagt ebenso wie Frau Schwan eindeutig, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Natürlich gab es in der DDR auch formal korrekte Rechtsbereiche, wenn man an die Straßenverkehrsordnung denkt, das Familienrecht oder die Gleichstellung von Mann und Frau…
 
SPIEGEL ONLINE: ...worauf sich Frau Schwan bei der Bitte um Differenzierung bezogen hat.
 
Winkler: In diesem Punkt hat sie Recht. Aber auch im "Dritten Reich" bestanden Rechtsgrundlagen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik fort. Da gab es in einem vorpolitischen Bereich noch korrekte Gerichtsurteile, solange keine vitalen Interessen des Regimes berührt waren. Trotzdem würde niemand deswegen auf die Idee kommen, für die ganz anders geartete Diktatur des Nationalsozialismus den Begriff Unrechtsstaat für tabu zu erklären.
 
SPIEGEL ONLINE: Die Grautöne sind also da,…
 
Winkler: …was völlig unstrittig ist. Aber man muss unterscheiden, ob man vom Regime oder von den Menschen spricht. Ich glaube, genau das bezweckt Platzeck. Das Regime war eine menschenverachtende Diktatur. Damit ist kein Urteil über die Menschen gefällt, die unter diesem Regime leben mussten. Was sie diesem Regime - unter widrigen Umständen - abgetrotzt haben, das verdient großen Respekt. Und vor allem natürlich der immense Mut der Bürgerrechtler, die das System im Herbst 1989 im Rahmen einer ost-mitteleuropäischen Revolution mit zum Einsturz brachten.
 
SPIEGEL ONLINE: Das ist also das sogenannte richtige Leben im falschen Staat?
 
Winkler: Man konnte auch in einem solchen Regime große persönliche Leistungen erbringen. Und: Man konnte persönlich anständig bleiben. Wenn man es wagte, nach dem eigenen Gewissen zu handeln und sich Spitzeldiensten für die Stasi zu verweigern. Das haben die allermeisten getan.
 
SPIEGEL ONLINE: Respekt vor dem Leben in der DDR - dieser Aspekt scheint vielen Ostdeutschen in der Debatte zu kurz zu kommen.
 
Winkler: Deswegen kommt es darauf an, differenziert darüber zu sprechen. Dass Regime und Bevölkerung eins seien, das ist die Schutz-Behauptung jedes totalitären Regimes - und das war die DDR dem Anspruch nach, weil sie einen neuen Menschen schaffen wollte und den ganzen Menschen für sich beanspruchte. Dass die Wirklichkeit anders aussah, wissen wir.
 
SPIEGEL ONLINE: Muss man nicht ohnehin zwischen der frühen DDR unter Ulbricht und der späten DDR in den Achtzigern unterscheiden - sonst hätte die Oppositionsbewegung doch gar nicht entstehen können?
 
Winkler: Man muss den geschichtlichen Ablauf differenziert sehen. Unter dem Druck der KSZE-Schlussakte von 1975 konnten deren Menschenrechtsversprechungen von Bürgerrechtlern in den Staaten des Warschauer Paktes genutzt werden; am frühesten und stärksten in Polen, wo durch die Gründung der unabgängigen Gewerkschaft Solidarnosc im Sommer 1980 jene friedliche Revolution begann, die dann 1989 große Teile von Ostmittel- und Südosteuropa erfasste. Deshalb muss man immer sagen, von welcher Zeit die Rede ist. Aber es bleibt dabei: Dem Anspruch nach war die DDR vom Anfang bis zum Ende eine menschenverachtende Diktatur. Ein System, das all jene, die sich ihm durch Flucht entziehen wollte, massiv bedrohte. Viele derer, die versuchten, die Mauer und den Stacheldraht zu überwinden, wurden von Grenzschutz-Organen aufgrund des Schießbefehls der DDR getötet.
 
SPIEGEL ONLINE: Schwans Äußerungen werden von manchen Sozialdemokraten wie dem Bundestagsabgeordneten und Ex-Bürgerrechtler Stephan Hilsberg als Anbiederung an die Linke vor der Bundespräsidentenwahl verstanden. Stimmen Sie dem zu?
 
Winkler: Ich will nicht über die Motive - etwa von Erwin Sellering, SPD-Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der die neueste Unrechtsstaat-Debatte ausgelöst hat - spekulieren. Nachdem die Diskussion begonnen hat, ist es wichtig zu klären, was wir unter Diktatur und Unrechtsstaat verstehen. Insofern ist diese Debatte nicht überflüssig.
 
SPIEGEL ONLINE: Also gehört das Thema auch in den Wahlkampf?
 
Winkler: Man sollte Fragen, die in der öffentlichen Diskussion sind, nicht aus einem Wahlkampf ausklammern. Es gibt keine Rede- und Denkverbote. Und diejenigen, die der Partei "Die Linke" und ihrer halben DDR-Apologie nicht das Feld überlassen wollen, werden dieser Debatte nicht ausweichen können.
 
SPIEGEL ONLINE: Dann sollten aber auch alle mitdiskutieren dürfen. Mancher ostdeutsche Politiker wie Thüringens SPD-Chef Matschie hätte am liebsten, dass dies nur ehemalige DDR-Bürger tun.
 
Winkler: Wir leben in einem vereinten Deutschland. Das Denken in den Kategorien "wir" und "die", "hüben" und "drüben", muss überwunden werden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit der zweiten deutschen Diktatur ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Allerdings müssen die Westdeutschen schon versuchen, sich in die Ostdeutschen zur Zeit der Teilung hineinzuversetzen. Nur dann können sie einigermaßen gerecht sein bei dem Bemühen, zwischen Regime und Bevölkerung zu unterscheiden.
 
Das Interview führte Florian Gathmann
 
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

19.5.09

Mehr rechtsradikale Straftaten

 Verfassungsschützer registrieren drastisch mehr rechtsradikale Straftaten
 
Die Zahl rechtsradikaler Straftaten in Deutschland hat deutlich zugenommen. Nach ersten Informationen aus dem neuen Verfassungsschutzbericht gab es 2008 rund 20.000 Fälle, darunter viele Gewalttaten - 16 Prozent mehr als im Vorjahr.
 
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm stellen den Bericht am Vormittag in Berlin vor. Nach "Bild"-Informationen enthält er dramatische neue Daten über Neonazi-Aktivitäten in Deutschland: Die Zahl der rechtsradikal motivierten Straftaten ist der Zeitung zufolge stark angestiegen.
 
20.000 Fälle seien 2008 von der Polizei gezählt worden, darunter mehr als 1000 Gewalttaten. Das sind fast 16 Prozent mehr als im Vorjahr.
 
Als besonders gefährlich gelten die autonomen Nationalisten, die bei Aufmärschen als schwarzer Block auftreten und häufig in Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten verwickelt sind.
 
Der Bericht wird auch die neuesten Erkenntnisse der Verfassungsschützer über die NPD enthalten. Die SPD-Landesinnenminister waren schon vor zwei Wochen vorgeprescht und hatten eine eigene Materialsammlung vorgelegt, um für einen neuen Anlauf zu einem NPD-Verbot zu werben. Schäuble hatte den Vorstoß zurückgewiesen.
 
Gegenstand des Verfassungsschutzberichtes ist auch die extremistische linke Szene sowie die Gefahr durch Terroristen. Dem "Bild"-Bericht zufolge wird außerdem vor einer zunehmenden Gefahr durch islamische Fundamentalisten gewarnt.
 
Muslimische Gruppen wie Milli Görüs und die Muslimbruderschaft wollten hierzulande Regeln der islamischen Scharia verbreiten, heißt es im Verfassungsschutzbericht demnach. Als Gefahr genannt würden explizit Einwanderer der zweiten Generation und radikale Konvertiten aus Deutschland, die nach Pakistan reisen, wo das Terrornetzwerk al-Qaida und andere radikale Gruppen Planungs- und Ausbildungsstützpunkte unterhalten.
 
Das "Handelsblatt" hatte schon am Montag Passagen aus dem Verfassungsschutzbericht zur Internet-Spionage veröffentlicht, denen zufolge deutsche Unternehmen und Regierungsstellen zunehmend zum Ziel von Hackern werden, die im Auftrag ausländischer Geheimdienste arbeiten. "Hauptträger der Spionageaktivitäten in Deutschland sind derzeit die Russische Föderation und die Volksrepublik China", zitiert das Blatt aus dem Bericht.
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

18.5.09

Handlanger des Holocaust

Die Deutschen waren die Mörder - aber auch viele Nichtdeutsche mordeten mit. Der Fall John Demjanjuk lenkt jetzt den Blick auf einen vernachlässigten Aspekt des Judenmords der Nationalsozialisten: Hitlers Häscher hatten willige Helfer für ihr Jahrtausendverbrechen - in fast allen Ländern Europas. Von Georg Bönisch, Michael Sontheimer und Klaus Wiegrefe
In dem rumänischen Städtchen Hirsova an der Donau ergriffen Kämpfer der Eisernen Garde Ende 1940 den Kaufmann Alexandru Spiegel. Zunächst verprügelten die Faschisten den Juden, dann fesselten sie ihn an einen Pfahl. Die Wachen, die sich wegen der bitteren Kälte alle zwei Stunden abwechselten, holten Kinder aus der Schule, die den Unglücklichen mit Schneebällen bewarfen. In Socken stand er da. Als er seinen Kopf nicht mehr aufrecht halten konnte, klemmten seine Peiniger ihm ein Stück Holz zwischen Brust und Kinn. Der Tod war eine Erlösung für Alexandru Spiegel.
 
In Rumänien, wo vor dem Zweiten Weltkrieg der Antisemitismus laut Hannah Arendt am stärksten in Europa war, kam es schon vor der Allianz mit Nazi-Deutschland zu zahlreichen Mordexzessen gegen Juden. Als Legionäre unweit von Bukarest Juden ermordet hatten, hängten sie mehrere der Toten wie Vieh an Haken auf. Dazu stellten sie ein Schild: "Koscheres Fleisch zu verkaufen".
 
Wieviele Juden während des Zweiten Weltkriegs in Rumänien ermordeten wurden, ist umstritten. Die Schätzungen der Experten bewegen sich zwischen 200.000 und 400.000. Fest steht, dass die allermeisten ohne deutsches Zutun von Rumänen getötet wurden, "aus eigenem Antrieb", wie der Historiker Armin Heinen schreibt.
 
"Das war tägliche Arbeit"
 
Und in anderen Ländern rund um Deutschland herum war es nicht viel besser. Iwan Demjanjuk, der nun in München in Untersuchungshaft sitzt, stammt aus der Ukraine und zählte offensichtlich zu den "Trawniki" genannten Handlangern des Holocaust. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord an mindestens 29.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor vor. Der inzwischen verstorbene ehemalige Trawniki Ignat Daniltschenko hat 1949 und 1979 bekundet, Demjanjuk sei ein "erfahrener und effizienter Wachmann" gewesen, der Juden in die Gaskammer getrieben habe - "das war tägliche Arbeit".

Mit Demjanjuk geraten nun auch die nichtdeutschen Täter stärker in den Fokus: ukrainische Gendarmen und lettische Hilfspolizisten, rumänische Soldaten oder ungarische Eisenbahner. Auch polnische Bauern, niederländische Katasterbeamte, französische Bürgermeister, norwegische Minister, italienische Soldaten - viele haben mitgemacht bei dem Jahrtausendverbrechen schlechthin, dem Holocaust. Auf über 200.000 schätzt der Historiker Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte die Zahl der Nichtdeutschen, die die "Mordaktionen vorbereiteten, durchführten und unterstützten" - ungefähr genauso viele wie Deutsche.
 
Und oft standen sie den SS-Schergen und Wehrmachtsoldaten an Grausamkeit in nichts nach. Baltische Mordkommandos wüteten im deutschen Auftrag in Lettland, Litauen, Weißrussland und der Ukraine. Den deutschen Einsatzgruppen zwischen Warschau und Minsk fiel es gewöhnlich nicht schwer, die nichtjüdische Bevölkerung zu Pogromen anzustacheln.
 
Ein "europäisches Projekt"?
 
Niemand kann das Faktum bezweifeln, dass es den Holocaust ohne Hitler, Himmler, Heydrich und die vielen, vielen deutschen Volksgenossen, die ihn exekutierten, nie gegeben hätte. Ebenso unstrittig ist allerdings auch, "dass die Deutschen den millionenfachen Mord an den europäischen Juden nicht allein hätten bewerkstelligen können", konstatiert der Hamburger Historiker Michael Wildt.
 
Auf den Totenfeldern in Osteuropa kamen auf einen deutschen Polizisten bis zu zehn einheimische Hilfskräfte. Ähnlich war das Zahlenverhältnis in den Vernichtungslagern. Zwar nicht in Auschwitz, das fast ausschließlich von Deutschen betrieben wurde, wohl aber in Belzec, Treblinka oder eben Sobibor, wo mutmaßlich John Demjanjuk wütete. Dort standen einer Handvoll SS-Leute ungefähr 120 Trawniki zur Seite. Ohne diese hätten es die Deutschen "niemals geschafft", in Sobibor 250.000 Juden umzubringen, urteilt ein Überlebender. Es waren die Trawniki, die das Lager bewachten, die Juden nach ihrer Ankunft aus den Waggons und von den Lastwagen trieben, sie in die Gaskammer prügelten.
 
Vor diesem Hintergrund stellt sich eine Frage, die der Berliner Historiker Götz Aly schon vor Jahren formuliert hat: Handelt es sich bei der "Endlösung der Judenfrage" womöglich um ein "europäisches Projekt, das sich nicht allein aus den speziellen Voraussetzungen der deutschen Geschichte klären lässt"?
 
Opfer? Täter? Beides?
 
Erst spät - als die meisten Täter schon tot waren - begannen Franzosen oder Niederländer, diesen Teil ihrer Geschichte umfassend aufzuarbeiten. Andere, wie die Ukrainer oder Litauer, verweigern sich bis heute dieser Aufgabe, oder sie stehen wie Rumänien, Ungarn und Polen noch am Anfang.
 
Seit dem Ende des Krieges sahen die von Hitlers Wehrmacht Überfallenen sich und ihre vielfach verwüsteten Länder - zu Recht - als Opfer. Dass dennoch Landsleute den deutschen Tätern zur Hand gingen, passt einfach nicht in dieses bequeme Bild.
 
Die Letten haben, nach den Recherchen des amerikanischen Holocaust-Historikers Raul Hilberg, pro Kopf der Bevölkerung die meisten Täter aufzuweisen. Von den niederländischen Juden überlebten gerade einmal 9 Prozent. Stellt der Holocaust also nicht nur den Tiefpunkt der deutschen, "sondern eben auch der europäischen Geschichte" dar, wie es Historiker Aly formuliert?
 
Siebeneinhalb Gulden Prämie für jeden Juden
 
Die Deutschen brauchten schon einheimische Helfer, um die Juden überhaupt zu identifizieren. Thomas Blatt, ein Überlebender von Sobibor, der als Nebenkläger in einem möglichen Prozess gegen Demjanjuk auftreten will, war damals ein blonder Junge. Er trug in seiner polnischen Heimatstadt Izbica keinen gelben Stern, aber wurde mehrfach verraten. Solche Denunziationen kamen in Polen so häufig vor, dass sich für bezahlte Tippgeber ein besonderer Begriff einbürgerte: "Szmalcowniki", ursprünglich eine Bezeichnung für Hehler.
 
In den Niederlanden zahlte die "Hausraterfassungsstelle", die dem "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" zugeordnet war, für jeden identifizierten Juden 7,50 Gulden - das wären heute um die 40 Euro. Denunzianten sorgten dafür, dass allein in den Monaten März bis Juni des Jahres 1943 über 6800 Juden aufgespürt und zumeist deportiert wurden.
 
Auch die Regierungen der mit Nazi-Deutschland verbündeten Länder - wie Rumänien, Bulgarien und Ungarn - gingen zur Hand; am willigsten zeigten sich die der Slowaken und Kroaten, denen Hitler einen Staat geschenkt hatte. Die kroatischen Ustascha-Faschisten errichteten eigene Konzentrationslager, in denen Juden, so der Historiker Hilberg, "durch Typhus, Hunger, Erschießen, Folterung, Ertränken, Erstechen und Hammerschläge auf den Kopf" ums Leben kamen.
 
Training an lebenden Objekt
 
Als die SS an die Ermordung der polnischen Juden ging, rekrutierte sie bevorzugt unter Ukrainern und Volksdeutschen in Kriegsgefangenenlagern. Dort standen Rotarmisten wie Iwan Demjanjuk vor der Wahl, für die Deutschen zu töten oder selbst zu verhungern. Später stießen in zunehmendem Maße auch Freiwillige aus der Westukraine und aus Galizien zu diesen "Hilfswilligen".
 
Die Männer kamen nach Trawniki im Distrikt Lublin, wo SS-Männer sie auf dem Gelände einer ehemaligen Zuckerfabrik für ihren Todesjob trainierten. Mitte 1943 waren in Trawniki 3700 Mann stationiert, später 5000; sie trugen schwarze oder braune Uniformen. Die SS-Männer zeigten ihren Lehrlingen, wie man Razzien durchführt und Häftlinge traktiert - vorzugsweise am lebenden Objekt. Die Truppe fuhr in eine der Kleinstädte der Umgebung, prügelte Juden aus den Häusern und erschoss sie im Wald. Die deutschen Chefs setzten die Trawniki bei der Räumung von Ghettos ein und schließlich in den Vernichtungslagern; rund um die Uhr, in Acht-Stunden-Schichten.
 
Der Prozess gegen Demjanjuk wird der letzte große NS-Prozess auf deutschem Boden sein. In den nächsten Tagen werden Mediziner klären, ob - und wie lange am Tag - gegen Hitlers wohl letzten noch lebenden Schergen aus Sobibor verhandelt werden könnte.
 
Diejenigen, die in den Lagern unter Trawnikis wie Demjanjuk litten, empfinden keine Rachegefühle. Es reiche ihm, sagt der amerikanische Psychoanalytiker Jack Terry, wenn Demjanjuk "auch nur für einen Tag in einer Zelle hocken müsste". Terry saß als ganz junger Bursche im KZ Flossenbürg, als Demjanjuk dort Wache schob. Ihm sei es "egal, ob er ins Gefängnis muss oder nicht, der Prozess ist mir wichtig", sagt der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt: "Ich will die Wahrheit." Demjanjuk, der bislang alles geleugnet hat, könnte als einer der letzten Täter Auskunft geben - und so Einblicke gewähren in die Hölle der Holocaust-Helfer.
 
 
© SPIEGEL ONLINE 2008

14.5.09

"Es ist schon eine ganz nette Hitlergemeinde hier"

Nazis in Palästina
Das Gelobte Land eine Nazi-Hochburg? Genau. Vor 1939 war jeder dritte deutsche Siedler in Palästina Mitglied der NSDAP, die Hitler-Jugend von Haifa bot Hebräisch-Kurse an. Nach dem Krieg mussten die Palästina-Deutschen weichen - und wurden von Israel finanziell entschädigt. Von Ralf Balke
Es war eine der unzähligen blutigen Saalschlachten zwischen Kommunisten und Nazis gegen Ende der Weimarer Republik, die 1932 im württembergischen Nagold stattfand. "Ich wurde Zeuge, wie ein befreundeter SA-Mann durch einen Revolverschuss schwer verletzt wurde", erinnerte sich Ludwig Buchhalter später an das dramatische Ereignis, das ihn nachhaltig prägen sollte: Kurz nach dem Zwischenfall trat der politisch unbedarfte junge Mann der NSDAP bei.
 
Eigentlich nichts Besonderes, schließlich taten das damals Hunderttausende von Deutschen. Und doch beinhaltet der Fall eine gewisse Pikanterie, denn Ludwig Buchhalter stammte aus Jerusalem. Und dorthin kehrte er nach seiner Ausbildung in Nagold 1933 auch zurück, nahm eine Stelle als Lehrer an der Deutschen Schule an. Nur wenig später wurde er Ortsgruppenleiter der NSDAP in Jerusalem.
 
Die NSDAP-Ortsgruppe in Jerusalem war Teil eines nationalsozialistischen Netzwerks im Heiligen Land, das bald unter der Bezeichnung "Landesgruppe der NSDAP in Palästina" firmieren sollte. Und wie in Jerusalem rekrutierte sich die Mehrheit ihrer Mitglieder aus der "Tempelgesellschaft", einer pietistischen Abspaltung der württembergischen Landeskirche. Deren schwäbische Anhängerschaft hatte sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts die "Errichtung des Reichs Gottes auf Erden" auf ihre Fahnen geschrieben, das sie natürlich nirgendwo anders aufzubauen gedachten, als im Heiligen Land selbst. 1868 begann die Übersiedlung der ersten Templer in die damalige osmanische Provinz Palästina.
 
"Blut, Boden, Rasse als gottgeschenkte Wirklichkeiten"
 
Zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zählte die Palästina-deutsche Minorität knapp zweieinhalbtausend Personen. Die schwäbischen Siedler lebten strikt abgeschottet von allen Nicht-Deutschen. Mit einer gehörigen Portion Chauvinismus blickten sie auf die Araber herab, die für sie nur "das Brot der Faulheit" aßen. Und voller Missgunst betrachteten sie den Erfolg der Zionisten, der ihre Hoffnungen zunichte machte, selbst irgendwann einmal das Land zu beherrschen.
 
In ihren Augen war die zionistisch motivierte Einwanderung nur durch die "Macht des jüdischen Goldes" zu Einfluss zustande gekommen. Schon frühzeitig wurde der ursprünglich religiös motivierte Antijudaismus der Templer durch Anspielungen auf die unerschöpfliche Finanzkraft eines angeblich omnipotenten "Weltjudentums" ersetzt und später durch rassebiologische Antisemitismus angereichert. Stolz verkündete 1935 die "Warte des Tempels", das Zentralorgan der Tempelgesellschaft, dass man sich seit Generationen "in der Rassenfrage ganz im nationalsozialistischen Sinne verhalten" habe. "Blut, Boden, Rasse als gottgeschenkte Wirklichkeiten", lautete bald das Credo der Pietisten.
 
Wie die Biographie Ludwig Buchhalters zeigt, leitete das Jahr 1933 eine für die Palästina-Deutschen verhängnisvolle Wende ein. Die Hitler-Diktatur verstanden sie als Beginn einer Renaissance Deutschlands; die deutschen Siedler ergriff eine bis dahin unbekannte Politisierung. Schon 1932 hatte Karl Ruff, ein in Haifa ansässiger Architekt, erste Kontakte zur Nazi-Partei geknüpft. Die Auslands-Organisation (AO) der NSDAP, zuständig für die Mitglieder der Partei jenseits der Reichsgrenzen, reagierte prompt und hoffte, "besonders in Palästina eine Landesgruppe ins Leben rufen" zu können.
 
Braunes Palästina
 
Das Ergebnis war zunächst eher mager. Gerade sechs Palästina-Deutsche beantragten vor 1933 das braune Parteibuch. Aber bereits im November 1933 waren 42 Mitglieder registriert, und im Januar 1938 war die Zahl auf über 330 angewachsen: Jeder dritte erwachsene Deutsche in Palästina war damit NSDAP-Mitglied. Ein Spitzenwert: Während insgesamt nur fünf Prozent der im Ausland lebenden deutschen Staatsbürger Parteigenossen waren, lag der Anteil in Palästina bei rund 17 Prozent.
 
Am Charisma der lokalen Parteifunktionäre lag es auf keinen Fall, dass es mit der NSDAP in Palästina so rasant aufwärts ging. Genau wie ihre großen Vorbilder daheim im "Dritten Reich" legten die braunen Würdenträger einen ausgesprochenen Hang zu Intrigen und gegenseitigen Denunziationen an den Tag, der die Parteiarbeit eher lähmte. Aber dennoch: "Es ist schon eine ganze nette Hitlergemeinde hier, welche regelmäßig zu den Reden kommt", schrieb der spätere NSDAP-Landesgruppenleiter Cornelius Schwarz seinem Sohn Erwin im März 1933 nach Kairo, "auch kommen immer junge Leute, die auch schon begeistert sind."
 
In nur wenigen Jahren etablierten sich in jeder deutschen Siedlung im gelobten Land Ortsgruppen der NSDAP. Sehr erfolgreich kopierten die Palästina-Deutschen zudem das im "Dritten Reich" eingeführte Spektrum an NS-Organisationen. Viele Details aus dem Palästina-deutschen Alltag unter dem Hakenkreuz erscheinen aus heutiger Sicht bizarr - etwa die von der Hitler-Jugend Haifa angebotenen Hebräisch-Sprachkurse.
 
Juden mit Hakenkreuzfahnen
 
Die Selbstgleichschaltung der Deutschen in Palästina war überaus erfolgreich und ging absolut freiwillig über die Bühne. Im Unterschied zu Deutschland verfügte die Palästina-NSDAP über keinen Repressionsapparat - niemand, der sich den Jerusalemer Nazis widersetzt hätte, wäre an Leib und Leben gefährdet gewesen. Die unwidersprochene, auf keinerlei Gegenkraft stoßende Gleichschaltung der Palästina-Deutschen lässt sich daher treffend als "Selbstnazifizierung" charakterisieren.
 
Die Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges boten so gelegentlich Szenen wie aus einem absurden Theaterstück an. So forderten die Araber in den Unruhejahren zwischen 1936 und 1939 beim Passieren der von ihnen kontrollierten Gebiete explizit die Hakenkreuzfahne als Erkennungszeichen an deutschen Autos, um Verwechslungen mit Juden oder Briten zu vermeiden. Und die eigentlich recht elitäre NSDAP empfahl allen Palästina-Deutschen, das Hakenkreuzabzeichen zu tragen - ganz unabhängig davon, ob sie Parteimitglied waren oder nicht.
 
Diese Ausnahmesituation wiederum hatte zur Folge, dass die britische Mandatsmacht wie die jüdischen Bewohner Palästinas die Deutschen pauschal der Nähe zu den aufständischen Arabern verdächtigten. Ludwig Buchhalter bekam dies hautnah zu spüren, als er auf einer Fahrt von Jerusalem nach Jaffa dank einer Hakenkreuzfahne am Wagen zwar die arabischen Dörfer ungehindert durchfahren konnte, dann aber aus einem jüdischen Fahrzeug unter Feuer genommen wurde. Auch der tägliche, zwischen Jerusalem und der deutschen Siedlung Wilhelma pendelnde Molkereiwagen führte eine Hakenkreuzfahne mit - die dann schon mal von den gelegentlich mitfahrenden jüdischen Passagieren geschwenkt werden musste.
 
Israel muss Alt-Nazis entschädigen
 
Der Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 bedeutete das Aus für die deutschen Siedlungen in Palästina - und damit auch für die NSDAP-Landesgruppe. Ein Teil der wehrpflichtigen Deutschen, unter ihnen auch der Jerusalemer Ortsgruppenleiter Buchhalter, konnten noch unmittelbar vor Ausbruch der Kampfhandlungen per Seeweg aus dem Gelobten Land fliehen. Die übrigen Palästina-Deutschen wurden kurzfristig verhaftet, durften aber nach wenigen Wochen in ihre Häuser zurückkehren.
 
Als jedoch "Wüstenfuchs" Erwin Rommel und sein Afrika-Korps entlang der Mittelmeerküste nach Osten vorstießen, verschifften die Briten über 500 verbliebene Palästina-Deutsche nach Australien. Dort wurden sie in einem Internierungslager untergebracht, wo sie noch im April 1945 voller Hoffnung auf den Endsieg im Outback Hitlers Geburtstag feierten.
 
Das offene Bekenntnis der Palästina-Deutschen zum Nationalsozialismus rächte sich nach 1945 bitter. Eine Rückkehr der deutschen Siedler war unmöglich geworden, die noch verbliebenen mussten bis zur Gründung des Staates Israels 1948 das Land verlassen. Die Tempelgesellschaft verlor damit den Mittelpunkt ihres religiösen und sozialen Lebens; ihre Anhänger lebten fortan nur noch in Deutschland und Australien.
 
Der Abschied von der alten Heimat im Heiligen Land wurde den Ex-Nazis und braunen Mitläufern allerdings durch finanzielle Entschädigung erleichtert: Israel musste 54 Millionen D-Mark aus den bundesdeutschen Zahlungen als Entschädigung für das konfiszierte Palästina-deutsche Eigentum verwenden - das jedenfalls sah eine Passage in dem sogenannten Wiedergutmachungsabkommen zwischen dem jüdischen Staat und der Bundesrepublik Deutschland vor. Auch der einstige NSDAP-Ortgruppenleiter von Jerusalem, Ludwig Buchhalter, profitierte davon. Für sein verlorenes Haus in Jerusalem wurde der bis zu seiner Pensionierung 1975 im Schuldienst Baden-Württembergs tätige Lehrer in den fünfziger Jahren mit einem fünfstelligen Betrag fürstlich entschädigt.
 
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13.5.09

Wenn Alter vor Strafe schützt

NAZI-KRIEGSVERBRECHER
Die Verbrechen, die sie begangen haben sollen, liegen mehr als sechs Jahrzehnte zurück: Noch immer genießen Dutzende mutmaßliche Nazi-Kriegsverbrecher unbehelligt von der Justiz ihren Lebensabend. Für die Ermittler ist es ein Kampf gegen die Zeit.
 
Hamburg - Für Karoly Charles Zentai war dieser Dienstag ein guter Tag: Seine Abschiebung aus Australien nach Ungarn wurde gestoppt - in letzter Minute. Die Regierung in Budapest schien zuletzt doch nicht mehr interessiert daran, dem 87-Jährigen, der im November 1944 als Soldat den 18-jährigen ungarischen Juden Peter Balazs gequält, ermordet und seine Leiche in der Donau versenkt haben soll, den Prozess zu machen.
 

Im Juli 2005 hatten australische Polizisten Zentai festgenommen - seither werden der Prozess und eine Entscheidung darüber, was aus dem Greis werden soll, immer wieder vertagt. Dass der fast 90-Jährige sich je vor einem ungarischen Richter wird verantworten müssen, scheint mehr als fraglich.
 
Zentai ist nur einer von weltweit Dutzenden mutmaßlichen Nazi-Kriegsverbrechern, die von der Justiz nicht belangt werden. Die Verfahren werden vertagt - und platzen schließlich, weil der Angeklagte nicht verhandlungsfähig ist, es keine noch lebenden Zeugen oder einschlägige Dokumente gibt. Nach Schätzungen renommierter Historiker haben mindestens 200.000 Deutsche und Österreicher am Holocaust mitgewirkt. Gegen 106.000 Beschuldigte ermittelten deutsche Staatsanwaltschaften, aber nur rund 6500 wurden verurteilt - eine magere Bilanz.
 
"Ein Prozess macht keinen Sinn mehr"
 
Zuletzt war im Januar einer der letzten geplanten Nazi-Kriegsverbrecher-Prozesse in Deutschland geplatzt. Das Landgericht Aachen konnte sich nicht dazu durchringen, das Verfahren gegen den früheren SS-Sturmmann Heinrich Boere zu eröffnen. Er sei "aufgrund vielfältiger erheblicher Gesundheitsstörungen nicht in der Lage, einer Hauptverhandlung als Angeklagter beizuwohnen", hieß es zur Begründung.
 
Der inzwischen 87-Jährige hatte als Mitglied des Kommandos "Silbertanne" 1944 in den Niederlanden drei unschuldige Menschen erschossen. Wie mehrere Gerichte übereinstimmend erkannten, tötete Boere jeweils gemeinsam mit einem Kameraden heimtückisch den Apotheker Bicknese in Breda, den Fahrradhändler Teunis de Groot in Voorschoten und Herrn Kusters in Wassenaar. Dennoch lebte der Bergmann jahrzehntelang unbehelligt von der Justiz im deutsch-niederländischen Grenzgebiet - und alles deutet darauf hin, dass dies auch so bleiben wird.
 
Zwar hat die Dortmunder Staatsanwaltschaft, als nordrhein-westfälische Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen zuständig, gegen die Nichteröffnung des Verfahrens Beschwerde eingelegt. Nach Ansicht der Ankläger könnte der körperlich gebrechliche Boere geistig fit genug für ein Verfahren sein. "Das müssen wir jetzt genau prüfen", sagte Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß SPIEGEL ONLINE. Doch Boeres Kölner Anwalt gibt sich gelassen: "Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn da noch etwas passieren sollte", so Gordon Christiansen zu SPIEGEL ONLINE.
 
Sein Mandant könne nicht mehr laufen, sei schwer herzkrank und überhaupt in zunehmend schlechter Verfassung. "Ein Prozess macht gar keinen Sinn mehr." Dennoch werden nach Christiansens Angaben in der kommenden Woche Ermittler des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts Angestellte des Pflegeheims befragen, in dem Boere untergebracht ist. "Die wollen ganz sicher gehen", so der Anwalt.
 
Der ehemalige SS-Mann selbst sorgt sich offenbar am allerwenigsten, überhaupt noch vor Gericht gestellt zu werden: "Ich bin alleine, ich habe nicht mehr lange zu leben und warte nur noch auf den Tod", sagte er bereits im August 2007 im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Und konfrontiert mit seinen Verbrechen im Krieg, entgegnete er: "Was damals passiert ist, interessiert mich nicht mehr."
 
"Die Liste der Entschuldigungen ist lang"
 
"In den vergangenen Jahren hat die Strafverfolgung der Täter in Deutschland unter einem Mangel an Einsatz gelitten", so Efraim Zuroff, Leiter des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem, zu SPIEGEL ONLINE. "Die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam - und die Liste der Entschuldigungen, warum jemandem nicht der Prozess gemacht werden kann, ist lang." Den Verfahren gegen die mutmaßlichen Nazi-Schergen müsse Priorität eingeräumt werden, sie müssten mit Nachdruck verfolgt werden "unabhängig vom Alter der Angeklagten".
 
Zuroff, der Nazi-Jäger, weiß, dass Leute wie Iwan Demjanjuk und Karoly Charles Zentai zu den "kleinen Fischen" gehören, er weiß, dass die Verfahren gegen sie vor allem symbolischen Charakter haben: "Aber nur weil sie symbolisch sind, sind sie nicht weniger nötig oder weniger wichtig. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen nicht um die Architekten des Holocausts handelt, bedeutet nicht, dass sie weniger Schuld tragen." Für die Angehörigen der Opfer sei entscheidend, dass jeder einzelne zur Rechenschaft gezogen werde.
 
Auf der Suche nach "Dr. Tod"
 
Seit Jahrzehnten gehört der ehemalige KZ-Arzt Aribert Heim zu den meistgesuchten NS-Verbrechern. Heim, der auch "Dr. Tod" oder der "Schlächter von Mauthausen" genannt wird, sei für die Fahnder in Deutschland ein "sehr attraktiver, sexy Fall", sagt Ruroff - im Gegensatz zu vielen anderen, die mit weit weniger Nachdruck verfolgt würden. Doch auch die Ermittlungen im Fall Heim gestalten sich schwierig.
 
Das ZDF und die "New York Times" hatten im Februar gemeldet, Heim sei bereits im August 1992 in Kairo an Krebs gestorben. Ein Sohn des Arztes hatte die Version bestätigt, eine zufällig in Kairo aufgefundene Aktentasche mit Dokumenten von Heim sowie Zeugen sollten Leben und Sterben in Ägypten belegen.
 
Doch die Ermittlungsbehörden hegen nach SPIEGEL-Informationen Zweifel an der Geschichte. So haben Spezialisten des Landeskriminalamts (LKA) Baden-Württemberg die Schriftstücke analysiert. Erste Bewertungen der Papiere lieferten jedoch "keinen Beweis für den Tod" Heims. Neue Erkenntnisse "aus eigenen Quellen" im In- und Ausland sowie die Widersprüche innerhalb der Version vom Tod in Ägypten ließen die Zielfahnder des LKA weiter "in alle Richtungen ermitteln".
 
Wie das LKA auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE mitteilte, hätten die Beamten noch immer nicht an den Nil fliegen können, weil "es von den dortigen Behörden noch keine Antwort" auf die Anfrage zum Informationsaustausch gebe. Weiterhin sei bislang nicht offiziell bestätigt worden, "dass Aribert Heim tatsächlich in Ägypten verstorben ist und dort begraben wurde". Die Fahndung bleibe daher bestehen. Auch habe man noch nach dem Fund der ominösen Tasche Hinweise zu möglichen Aufenthaltsorten des Gesuchten bekommen, denen nun nachgegangen werde.
 
"Österreich und Deutschland sind nicht Guantanamo"
 
Wo Milivoj Asner lebt, ist dagegen kein Geheimnis: Der fast 100-Jährige wohnt im österreichischen Klagenfurt, zeigt sich dort immer wieder mit seiner Frau in der Öffentlichkeit, sitzt in Cafés, bummelt durch die Straßen. Bei der Fußball-Europameisterschaft wurde er von einem Reporter der "Sun" auf einer Fanmeile entdeckt und interviewt. Im Zweiten Weltkrieg soll er als Chef der Ustascha-Polizei in der kroatischen Stadt Pozega für die Deportation Hunderter Juden und Serben verantwortlich gewesen sein.
 
Vier Gutachter sind zu dem Schluss gekommen, dass Asner nicht rechtlich belangt werden kann. Er leide unter fortschreitender Demenz und sei nicht in der Lage, die Folgen des von ihm Gesagten abzusehen. Der jüngste ärztliche Bericht ist gerade einmal vier Wochen alt.
 
"Dass diese Leute nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, liegt daran, dass die Justiz vor 30 Jahren säumig war", sagt der Klagenfurter Gerichtssprecher Manfred Herrenhofer SPIEGEL ONLINE. Damals habe es nicht die gesellschaftliche Rückendeckung für die Verfolgung der mutmaßlichen NS-Täter gegeben. "Heute haben wir eine junge Generation von Richtern. Und die können Unrecht nicht mit Unrecht vergelten. Jeder hat das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren, in dem die Unschuldsvermutung gilt."
 
Die österreichische Justiz sah sich harten Anschuldigungen ausgesetzt, nachdem die "Sun", von dem Gespräch ihres Reporters mit dem offenbar geistig regen Asner berichtete. "Österreich und Deutschland sind nicht Guantanamo", sagt Herrenhofer. "Wir sehen die Anliegen der Betroffenen. Aber deshalb dürfen wir das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit nicht aufweichen. Sonst machen wir uns unglaubwürdig."
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

Victor W.

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