VICTOR W.

10.8.09

NPD schleust Neonazis in Schöffenämter

Die NPD will mit einer neuen Strategie Strafprozesse beeinflussen: Bundesweit ruft sie ihre Anhänger zur Kandidatur als Schöffen auf. In mindestens einem Fall haben es die Rechtsextremen schon ins Amt geschafft.
 
Die Strategie der rechtsextremen NPD, über Schöffenämter gezielt Einfluss auf die Rechtssprechung zu nehmen, geht offenbar zum Teil auf. In mehreren Städten soll die Partei nach einem bundesweiten Aufruf zur Schöffen-Bewerbung erfolgreich gewesen sein, unter anderem am Amtsgericht Riesa, wie das ARD-Magazin "Fakt" und der MDR am Montag berichteten.
 
Neonazi-Aufmarsch in der Mark Brandenburg: Rechtsextreme als Schöffen im Gerichtsaal?
Der Direktor des Amtsgerichts Riesa, Herbert Zapf, bestätigte, dass eine NPD-Anhängerin als sogenannte Hilfsschöffin am Gericht beschäftigt sei. Nach Bekanntwerden des Falls sei am Montag ein Verfahren eingeleitet worden, um die Frau wieder von der Schöffenliste zu streichen.
 

Es handele sich laut "Fakt" dabei um die NPD-Kreistagskandidatin Ines Schreiber, deren Mann für das NPD-Organ "Deutsche Stimme" arbeitete. Laut Zapf soll sie in einem Fall als Schöffin im Einsatz gewesen sein. Dabei sei ein Diebstahlsdelikt verhandelt worden. Der Umstand, dass die Frau der NPD nahe stehe, sei bei den Schöffenwahlen im vergangenen Jahr nicht bekannt gewesen, sagte Zapf. Dies habe er erst in der vergangenen Woche erfahren. Für das Ehrenamt wurde die Frau von der Gemeinde Strehla als Kandidatin auf die Liste gesetzt, über die dann das Amtsgericht entschieden habe.
 
Die NPD hatte ihre Anhänger zuvor ausdrücklich aufgefordert, bei Schöffenwahlen zu kandidieren. In einem Aufruf, der auch im Internet veröffentlicht und vom sächsischen NPD-Landtagsabgeordneten Jürgen Gansel unterzeichnet wurde, heißt es, als ehrenamtlicher Richter könne man "das gesunde Volksempfinden in die Urteilsfindung einfließen" lassen. Damit könne "ein höheres Strafmaß etwa gegen kriminelle Ausländer und linksradikale Gewalttäter" durchgesetzt werden.
 
Zapf sagte, die Schöffin müsse noch angehört werden. Sie habe zwei Wochen Zeit, sich zum Sachverhalt äußern. Für die Streichung von der Liste müssten Gründe angegeben werden. Zapf verwies jedoch auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Mai 2008, wonach besondere Verfassungstreue von Richtern im Ehrenamt verlangt werde. Die Karlsruher Richter hatten damals die Amtsenthebung eines ehrenamtlichen Richters beim Arbeitsgericht Stuttgart bestätigt, der Mitglied einer Neonazi-Rockband war. Die Verfassungsbeschwerde des Mannes wurde damals verworfen.
 
Der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke sagte "Fakt": "Im speziellen Fall der NPD ist öffentlich bekannt, dass sie demokratiefeindlich ist, dass sie Positionen vertritt, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind." Allein dieses Wissen hätte ausreichen müssen, um NPD-Bewerber abzulehnen.
 
Nach Angaben des Justizministeriums will Sachsen sich einem Vorschlag Brandenburgs anschließen und eine Bundesratsinitiative vorantreiben, um den Gerichten in solchen Fällen ein besseres Instrument für entsprechende Entlassungsverfahren zur Hand zu geben.
 
An den sächsischen Amts- und Landgerichten gibt es 4000 Schöffenstellen. Die Amtszeit der ehrenamtlichen Richter beträgt fünf Jahre. Die Stellen wurden mit Beginn des Jahres neu besetzt. Die Schöffen wurden von Wahlausschüssen der Amtsgerichte aus den Vorschlagslisten der Gemeinden ernannt. Hilfsschöffen können zum Einsatz kommen, wenn die Hauptschöffen beispielsweise aus Krankheitsgründen ausfallen.
 
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

27.7.09

VOLKSVERHETZUNG

Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen NPD-Politiker
 
Der NPD-Politiker Udo Pastörs muss sich vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken hat Anklage wegen Volksverhetzung erhoben. Zuvor hatte der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern die Immunität des Fraktionschefs aufgehoben.
 
Auf einer Aschermittwochs-Veranstaltung der NPD im Februar sollen die volksverhetzenden Äußerungen gefallen sein. Laut der Staatsanwaltschaft Saarbrücken habe Udo Pastörs in seiner Rede zum Hass gegen Menschen jüdischen Glaubens und türkischer Herkunft aufgestachelt und sie "böswillig verächtlich gemacht". Demnach sprach der Fraktionschef des Schweriner Landtags von "der Judenrepublik" und gebrauchte im Zusammenhang mit türkischstämmigen Mitbürgern den Begriff "Samenkanonen".
 
Die Staatsanwaltschaft hat nun Anklage wegen Volksverhetzung erhoben, nachdem der Schweriner Landtag die Immunität des Abgeordneten aufgehoben hatte. Über die Zulassung der Anklage für eine Hauptverhandlung muss nun das Schöffengericht in Saarbrücken entscheiden.
 
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft stellte Pastörs die betroffenen Bevölkerungsteile mit seinen Äußerungen als minderwertig dar und stachelte zum Hass gegen diese auf. Der Begriff "Judenrepublik" stehe in der Tradition rechtsextremer antisemitischer Propaganda zur Zeit der Weimarer Republik und der darauf folgenden Diktatur.
 
Die auch in Anwesenheit von Medienvertretern gehaltene Rede sei von weiteren antisemitischen und ausländerfeindlichen Äußerungen, persönlichen Angriffen, historischen Verdrehungen und Geschmacklosigkeiten geprägt gewesen, die jedoch keine strafrechtliche Relevanz hätten.
 
27. Juli 2009, SPIEGEL ONLINE

9.6.09

Rechtsextreme schaffen Sprung in Stadträte

 KOMMUNALWAHLEN
Leipzig, Rostock, Saarbrücken, Erfurt, Trier: Die NPD zieht nach den Kommunalwahlen in etliche Stadtparlamente ein. Zwar blieb der befürchtete Durchmarsch aus - doch scheinen sich die Rechtsextremen dauerhaft festzusetzen. Aus Protestwählern werden Stammwähler.
 
Neonazi-Aufmarsch in Brandenburg: Kein Durchmarsch für die NPD - aber Festsetzen "in der Fläche"
Im sächsischen Parthenstein entschied der Zufall über den Triumph eines Rechtsradikalen. Zwei Bewerber - einer von der NPD, der andere Sozialdemokrat - erreichten bei der Kommunalwahl die gleiche Stimmenanzahl, allerdings war nur noch ein Sitz im Gemeinderat frei. Also wurde der Platz verlost. Der NPD-Kandidat gewann.

Auf Glück mussten sich die Neonazis bei den jüngsten Kommunalwahlen vielerorts nicht verlassen. Die Rechtsextremen verbuchten in mehreren Bundesländern Erfolge - zwar auf verhältnismäßig niedrigem Niveau, dennoch stabiler als gedacht.
 
In Thüringen zieht die NPD voraussichtlich in allen Wahlkreisen, in denen sie angetreten war, in die Parlamente ein. Landesweit kommt die Partei auf 3,1 Prozent der Stimmen. Kurz vor Auszählung aller Stimmen erreichte die NPD insgesamt 21 Sitze. Bei den vergangenen Kommunalwahlen waren die Rechten noch leer ausgegangen.
Auch in Sachsen sind die Gemeinden ausgezählt, die NPD steht dort bei 2,3 Prozent . Das entspricht mindestens 73 Sitzen in den Gemeinden. Damit hat die NPD ihre Mandate gegenüber den Kommunalwahlen 2004 fast verdreifacht - allerdings war sie dieses Mal auch mit deutlich mehr Kandidaten in den Wahlkampf gezogen. Im sächsischen Landtag sitzt die NPD seit 2004.
In Mecklenburg-Vorpommern gewinnt die NPD im Vergleich zur Kommunalwahl 2004 klar dazu und steigert sich von 0,8 auf 3,2 Prozent. Landesweit werden die Rechten nun 26 Mandate auf kommunaler Ebene besetzen. Damit zieht die Partei in die meisten Kreistage und Bürgerschaften in Mecklenburg-Vorpommern ein. Allerdings verlieren die Braunen im Vergleich zur Landtagswahl 2006 deutlich: Damals wählten über sieben Prozent der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern rechts, die NPD zog erstmals in den Schweriner Landtag ein.
In Sachsen-Anhalt sind die Auszählungen noch nicht abgeschlossen. Vorläufigen Ergebnissen zufolge verlor die NPD in ihren bisherigen Hochburgen, dafür ist die Partei nun aber in viermal so vielen Kommunalparlamenten vertreten.
Im Saarland zieht die NPD in die Stadtparlamente von Saarbrücken und Völklingen ein. In Saarbücken gewann die Partei 1,9 Prozent der Wählerstimmen, in Völklingen 4,6 Prozent. Im Vergleich zur Kommunalwahl 2007 verlor die NPD insgesamt jedoch mit 0,6 Prozentpunkten rund die Hälfte ihres Stimmenanteils.
In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bleiben die Kommunen und Städte nahezu NPD-frei - in Trier schafften die Braunen mit einem Sitz den Einzug ins Stadtparlament.

Auch wenn die NPD an die teilweise spektakulären Erfolge bei den Landtagswahlen 2006 nicht anknüpfte: Die Kommunalwahl 2009 ist ein Signal dafür, dass sich die NPD zumindest im Osten Deutschlands flächendeckend festsetzt.
 
Offenbar ist es der NPD gelungen, eine Stammwählerklientel herauszubilden und diese auch zu aktivieren. "Da wo die Parteien schon stark waren, haben sie sich gehalten", sagt der Rostocker Politikwissenschaftler Steffen Schoon. Das gilt auch für die Rechten.
 
Trotz zahlreicher Skandale der Bundespartei konnten die Rechtsextremen neue Bewerber aus den Kameradschaften für ihre politische Arbeit rekrutieren - dafür spricht die deutlich erhöhte Zahl der Kandidaten bei dieser Wahl. So waren in Sachsen die Rechtsradikalen mit mehr als 300 Bewerbern ins Rennen gegangen, viermal so viel wie 2004.
 
Auf Anhieb im zweistelligen Bereich
 
Das mecklenburgische Bargischow galt 2006 mit einem Stimmenanteil von knapp 32 Prozent als NPD-Wählerhochburg. Jetzt holte die NPD dort noch 21,4 Prozent der Stimmen. Ähnlich in Postlow in Ostvorpommern: Hier hatte die NPD 2006 ihr deutschlandweites Rekordergebnis von 38 Prozent eingefahren, bei der aktuellen Kommunalwahl kommt sie immerhin noch auf gut 17 Prozent.
 
In Lübtheen stimmten zwölf Prozent der Wähler für die Rechtsextremen. Hier hatte sich die Partei zum ersten Mal für eine Stadtvertreterwahl aufstellen lassen. In der Kleinstadt hatte unter anderem die Ehefrau des dort wohnenden Fraktionsvorsitzenden der NPD im Landtag, Udo Pastörs, kandidiert. In Kommunen wie Ueckermünde und Löcknitz sind die Rechtsextremen mit etwa 13 Prozent sogar drittstärkste Kraft geworden - jeweils vor der SPD.
 
Auch in Thüringen und Sachsen holte die NPD mehrfach Ergebnisse im zweistelligen Bereich. Im thüringischen Urnshausen erhielten die Rechten 19,1 Prozent. Im sächsischen Reinhardtsdorf-Schöna reichte es für 22 Prozent - vor fünf Jahren waren es dort sogar 25 Prozent. Die NPD-Hochburg Sebnitz in der Sächsischen Schweiz blieb mit 13,1 Prozent in etwa auf dem Stand von 2004.
 
Die "rechte Invasion" und "Schockwerte" in einzelnen Gemeinden blieben entgegen weit verbreiteter Befürchtungen aus. Doch die vielen Mandate auf kommunaler Ebene helfen der Partei, sich "in der Fläche zu verankern", so die Einschätzung des "Netzwerks für Demokratische Kultur" (NdK). Dort, wo die NPD seit Jahren erfolgreich antrete, könne man jetzt sicherlich nicht mehr von Protestwählern sprechen. In diesen Orten gebe es "ganz offensichtlich eine ideologisch gefestigte rechte Wählerschaft."
 
NPD profitiert von neuer Wahlregelung
 
Und die Rechten finden sich längst nicht mehr nur in der Provinz. Wie erwartet hat eine Änderung im Wahlgesetz der NPD den Weg in die Städte geebnet: In allen sieben Bundesländern, die am Sonntag wählten, wurde erstmals ohne sogenannte Fünf-Prozent-Hürde abgestimmt. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2008 entschieden, dass die Klausel kleinere Parteien diskriminiere.
 
In den thüringischen Städten Gera und Eisenach sitzen deshalb künftig zwei NPD-Mitglieder im Stadtparlament, in Weimar hat es einer geschafft. Auch in Erfurt deutet sich ein Mandat für die NPD an. In Dresden, Chemnitz und Leipzig, wo die NPD erstmals antrat, erreichte die Partei mit Stimmanteilen zwischen 2,4 und 3,7 Prozent zusammen fünf Mandate.
 
Ähnlich die Situation in Sachsen-Anhalt: In Halle, Magdeburg, Halberstadt, Quedlinburg, Sangerhausen, Zeitz, Köthen oder Bad Kösen eroberte die Partei je einen Sitz im Stadtrat. Auch in Mecklenburg-Vorpommern ist die NPD jetzt erstmals in den Stadträten von Schwerin und Stralsund, Rostock und Neubrandenburg vertreten.
 
Trotzdem könne von einem Triumph der Rechten keine Rede sein, ist die einhellige Meinung der Experten. Auch wenn die Rechtsextremen in zahlreiche Stadt- und Gemeindeparlamente einzogen, konnten sie in keinem Bundesland deutlich mehr als drei Prozent erreichen. Bei einer Landtagswahl wäre die NPD daher vermutlich gescheitert.
 
Außerdem sind die Rechtsextremen in den Städten mit nur einem oder zwei Sitzen vertreten. Für einen Fraktionsstatus, verbunden mit Ämtern, Einfluss und öffentlichen Geldern, reicht das kaum.
 
mit Material von AP, ddp, dpa
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

4.6.09

Hartz-IV-Empfänger wehren sich gegen Observierung

INTERNE WEISUNG
Scharfe Vorwürfe gegen die Bundesagentur: Hartz-IV-Initiativen beklagen, dass Empfänger der staatlichen Stütze bei Betrugsverdacht künftig observiert werden dürfen. Sie beklagen "Stasi-Methoden". Tatsächlich ist in der offiziellen Weisung von "Observation" die Rede.
 
Hamburg/Berlin - Der Bundesagentur für Arbeit (BA) steht Ärger ins Haus. Schon vor zwei Tagen haben die Initiative "Gegen Hartz IV" und das Erwerbslosenforum Deutschland in einer gemeinsamen Presseerklärung vor einer neuen Weisung der Behörde gewarnt - jetzt moniert auch die "Bild"-Zeitung, dass Hartz-IV-Empfänger künftig bei Betrugsverdacht regelrecht beschattet werden dürfen.
 
Die Weisung stammt vom 20. Mai und ist im Internet abrufbar (siehe PDF). Sie richtet sich laut "Bild" an alle Hartz-IV-Arbeitsgemeinschaften und Jobcenter. "Observationen" sind als Maßnahmen bei "Verdacht auf einen besonders schwerwiegenden Leistungsmissbrauch" genannt.
 
Dazu sollten die Behörden Außendienste einrichten oder private Firmen mit der Kontrolle beauftragen. Die Hartz-IV-Kontrolleure sollten demnach dann verstärkt zu Hausbesuchen bei Arbeitslosen ausschwärmen und mit Zustimmung des Hartz-IV-Empfängers auch Schränke kontrollieren, "wenn eine Sachverhaltsaufklärung sonst nicht möglich ist".
 
Die Ergebnisse der Wohnungskontrollen sollten detailliert protokolliert und "Auffälligkeiten" für jeden Raum gesondert beschrieben werden. Den Außendienstmitarbeitern solle es auch erlaubt sein, Nachbarn oder Bekannte über die Hartz-IV-Bezieher zu befragen. Selbst Kinder sollten befragt werden, wenn ihre Erziehungsberechtigten zustimmen.
 
Schon die beiden Hartz-IV-Initiativen hatten geklagt, in der Weisung seien die Möglichkeiten zu Datenerhebungen und Leistungsverweigerungen umfassend erweitert worden - von bisher zwei auf sechs Seiten. Die BA verschärfe die Kontrolle von Hartz-IV-Empfängern. Bei Betrugsverdacht könnten die Arbeitslosen demnach sogar von Sozialbehörden observiert werden können.
 
Nach Ansicht der beiden Initiativen reicht für die Einleitung einer Observation eine "anonyme Anzeige eines gehässigen Nachbarn aus". Martin Behrsig, Sprecher des Erwerbslosenforums, sagte, man prüfe derzeit rechtliche Schritte gegen die in der Weisung angedachten Methoden. Diese erinnerten an die "Stasi".
 
Scharf kritisieren die Initiativen auch den Unterpunkt Rz 6.7, der es erlaubt, Zeugen und Sachverständige zu "vernehmen", wobei "zwingend der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten" sei. Das suggeriert nach Meinung der Initiativen "Befugnisse von Strafermittlungsbehörden", die gar nicht vorhanden sein dürften. Auch verzichte die BA darauf, hinzuweisen, "dass Personen nur dann befragt und angehört werden dürfen, wenn Daten nicht anders erhoben werden können".
 
Die Bundesagentur hat sich am Vormittag zu den Berichten geäußert. Bei Verdacht von Sozialmissbrauch sind nach ihren Angaben seit Jahren Kontrollen von Hartz-IV-Empfängern üblich. In extremen Fällen könnten Verdächtige auch überwacht werden. "Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, Leistungsmissbrauch zu bekämpfen", sagte eine BA-Sprecherin am Donnerstag in Nürnberg. Zu den Vorwürfen, die Kontrollmöglichkeiten seien deutlich verschärft worden, äußerte sie sich nicht.
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

22.5.09

Als Demjanjuks Verfolger einen fatalen Fehler machten

Freispruch 1993
Er war zum Tode verurteilt und kam davon: Vor mehr als 20 Jahren stand John Demjanjuk in Israel vor Gericht. Doch am Ende des Verfahrens wurde jener Mann, dem jetzt in Deutschland wieder der Prozess gemacht werden soll, freigesprochen. Die Geschichte eines spektakulären Ermittlungsfehlers. Von Cordula Meyer und Axel Frohn
Die Richter hatten gerade erst ihr Urteil verkündet, da feiern die Israelis im Gerichtssaal schon frenetisch: "Tod, Tod, Tod!", rufen Teenager rhythmisch: Für sie gibt es keinen Zweifel: Der Mann vor ihnen auf der Anklagebank ist ein Massenmörder, ein Schlächter, "Iwan der Schreckliche", verantwortlich für den Tod tausender Juden im Zweiten Weltkrieg. Der Mann, dessen Todesurteil für so viel Freude sorgt, heißt John Demjanjuk. Kurz nach dem Urteil wird der Galgen für ihn gebaut.
 
Das war 1988 - vor mehr als 20 Jahren. John Demjanjuk lebt immer noch - und sorgt seit Monaten erneut für viel Wirbel. Nach langem Rechtsstreit wurde er jetzt aus den USA nach Deutschland geflogen, die Münchner Staatsanwaltschaft will ihm den Prozess machen - wegen Beihilfe zum Mord in 29.000 Fällen. So viele Menschen wurden im Vernichtungslager Sobibor ermordet, während Demjanjuk dort als Wachmann Dienst getan habe, so die Strafverfolger.
 
Doch in der in der medialen Aufregung um seine Auslieferung nach Deutschland ist der erste Prozess gegen Demjanjuk fast völlig in Vergessenheit geraten. Dabei zeigt er, wie schwierig es werden könnte, Demjanjuk zu verurteilen. Der saß in Israel sieben Jahre in einer Zelle - und sollte das Land dennoch als freier Mann verlassen.
 
Schwere Ermittlungsfehler, Irrtümer, unterdrückte Beweise
 
Die Wurzeln für diesen völlig überraschenden Ausgang, der damals für Israel zum Fiasko wurde, gehen bis in die siebziger Jahre zurück. Seit mehr als drei Jahrzehnten sind Nazi-Jäger dem heute 89-Jährigen auf der Spur. Sie ließen nicht locker - aber während dieser Zeit machten die Ermittler auch schwere Fehler, erlagen Irrtümern, und das US-Justizministerium unterdrückte sogar entscheidende Beweise.

Der erste Hinweis auf Demjanjuk stammt von einem seiner ehemaligen Kollegen. Ignat Daniltschenko, auch ein KZ-Wachmann, hatte bei seinem eigenen Kriegsverbrecherprozess in der Sowjetunion ausgesagt, er kenne einen Iwan Demjanjuk, der mit ihm zusammen in Sobibor und Flossenbürg Dienst getan habe. Die Amerikaner forschten nach und fanden Demjanjuks Einwanderungsakte: Als seinen Aufenthaltsort im Krieg hatte er "Sobibor" eingetragen - Standort eines Vernichtungslagers. Die US-Ermittler wurden hellhörig, aber mehr Indizien fanden sie nicht. Kein Sobibor-Überlebender in den USA konnte Demjanjuks Foto identifizieren. Also schickten die Kriminalisten das Foto mit 16 anderen Fotos verdächtiger Ukrainer nach Israel, damit sie KZ-Überlebenden vorgelegt werden konnten.
 
Per Zeitungsanzeige suchte die israelische Chef-Ermittlerin nach Zeugen aus den Todeslagern Sobibor und Treblinka. Keiner der Sobibor-Überlebenden erkannte ihn - allerdings ein Zeuge aus einem anderen Vernichtungslager, Abraham Goldfarb. "Iwan", sagte der Überlebende aus Treblinka und zeigte spontan auf das Foto mit der Nummer 16. "Aus wenigen Metern Entfernung" habe er gesehen, wie dieser Wachmann, "mit Eisenstangen und einem Bajonett", die Opfer in die Gaskammern trieb. "Wir Arbeiter nannten ihn Iwan Grozny, Iwan den Schrecklichen." Am Ende hat Israel sechs Augenzeugen, die auf Demjanjuks Foto "Iwan den Schrecklichen" aus Treblinka zu erkennen glaubten. Einen Mann, der Frauen auf dem Weg in die Gaskammer mit einem Bajonett die Brüste abschnitt. Eine mordlustige, meuchelnde Bestie. Einen Mann, der die Dieselmotoren für die Gaskammern anwarf, viele der 900 000 Treblinka-Toten mit eigenen Händen mordete.
 
Nichts darf den prestigeträchtige Fall kaputt machen
 
1977 wird in den USA ein Verfahren eingeleitet, um Demjanjuk die US-Staatsangehörigkeit zu entziehen. Das stärkste Beweismittel sind die ergreifenden Aussagen der Augenzeugen aus Treblinka. Außerdem findet die neugegründete Nazijäger-Einheit Office og Special Investigations (OSI) im US-Justizministerium einen Dienstausweis mit Demjanjuks Daten, der dessen Dienst als KZ-Wachmann bestätigt - aber eben in Sobibor und Flossenbürg, nicht in Treblinka. Um die Widersprüche auszuräumen, lässt das OSI sogar Demjanjuks mutmaßlichen Kollegen Daniltschenko durch sowjetische Beamte noch einmal vernehmen. Doch der verstärkt die Widersprüche noch und bleibt dabei, fast zwei Jahre zusammen mit Demjanjuk in Sobibor und Flossenbürg gewesen zu sein.
 
Die US-Nazi-Jäger vom OSI haben nun ein Problem. Die Treblinka-Überlebenden beteuern, Demjanjuk sei zur selben Zeit in Treblinka gewesen in der Daniltschenko mit ihm in Sobibor und Flossenbürg zusammen gearbeitet haben will. Die Geschichten passen nicht zusammen. Ein besonders penibler Ermittler, George Parker, schreibt seine Zweifel in einem langen Aktenvermerk an seine Chefs auf. Er nimmt an, dass die Augenzeugen sich geirrt haben müssen. "Selbst wenn es uns beruhigt, dass wir den richtigen Mann für die falsche Sache haben", schreibt Parker, "müssen wir aus ethischen Gründen unsere Position ändern." Der Fall müsse "radikal umgebaut" oder fallen gelassen werden.
 
Doch die Ermittler wollen sich den prestigeträchtigen Fall nicht kaputtmachen lassen. Sie ignorieren Parker, machen passend, was nicht passt und ersinnen eine "Transfer-Theorie": Demjanjuk sei zwischen den knapp 200 Kilometer entfernten Lagern Treblinka und Sobibor hin- und hergependelt. Im Juni 1981 wird Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft aberkannt. Zur gleichen Zeit verhandeln US-Beamte mit israelischen Kollegen allgemein über die Auslieferung von Nazi-Kriegsverbrechern. Sie sind sich einig, dass der Kandidat für ein erstes Verfahren "sehr sorgfältig ausgesucht" werden müsse. Die Israelis sind nicht an einem zweiten Eichmann-Prozess interessiert. Sie wollen diesmal keinen Vernichtungsbürokraten, für den zweiten Prozess in Israel soll ein Schlächter vor den Richter. Einer, der mit eigenen Händen gemordet hat. Demjanjuk scheint ideal.
 
Hunger, Schläge, Tod im Vernichtungslager
 
Im Februar 1987 beginnt der Prozess gegen ihn in einem Jerusalemer Theater. Jeder Gerichtssaal wäre zu klein. Schulklassen kommen in Bussen zur Verhandlung. Als die Überlebenden aussagen, wird ihr Auftritt auf Monitoren vor dem Gerichtssall übertragen. Die Zeugen erzählen vom unfassbaren Horror des Vernichtungslagers, vom Hunger, von den Schlägen und vom Tod überall. Ein Opfer geht ganz nah an Demjanjuk heran und sieht ihm direkt in die Augen. "Das ist Iwan", sagte er. "Ich sage es ohne den geringsten Zweifel."
 
Die Israelis wissen bis dahin nichts von Daniltschenkos Aussage, sie wissen nichts von den Zweifeln George Parkers. Aber sie haben den Dienstausweis Demjanjuks, in dem Sobibor verzeichnet ist. Der Staatsanwalt Michael Shaked wedelt sogar mit dem Dienstausweis in einer Klarsichthülle herum. Shaked versucht den Rentner klarzumachen, dass es ihn vor den Treblinka-Vorwürfen retten könnte, wenn er zugibt, in Sobibor gewesen zu sein. Doch Demjanjuk bleibt bei seiner Aussage, er sei Kriegsgefangener gewesen, unter anderem 18 Monate in einem Lager in Chelm - bis die Deutschen ihn für eine Kampfeinheit bei Graz angeheuert hätten. 1988 verurteilt ihn das israelische Gericht zum Tod durch den Strang - und löst damit den verfrühten Jubel aus.
 
Denn Demjanjuk geht in die Revision - und wird durch eine Kette von Zufällen gerettet. Erst stürzt einer von Demjanjuks Verteidigern von einem Hochhaus und stirbt, dann schüttet dem zweiten Verteidiger ein Holocaust-Überlebender Säure ins Gesicht. Nur knapp kann dessen Augenlicht gerettet werden. Während der sich von dem Attentat erholt, gewinnt Demjanjuk wertvolle Zeit - etwa anderthalb Jahre. In dieser Zeit fällt der Eiserne Vorhang, auf einmal sind ganz neue Recherchen möglich. "Mir ist klar, dass ohne das Material aus der Sowjetunion Demjanjuk exekutiert worden wäre", sagte Demjanjuk Verteidiger damals.
 
Identisch bis auf die Haarfarbe
 
Am Ende sind es Journalisten, Demjanjuks Angehörige, sowie der israelische Staatsanwalt selbst, die eine neue Wahrheit ans Licht bringen. Ein US-Reporter findet eine Maria Dudek in einem Dorf bei Treblinka, die berichtet, mit dem schrecklichen Iwan geschlafen zu haben, dem Betreiber der Gaskammern von Treblinka. Sein Name sei Iwan Martschenko, mit schwarzem Haar. Demjanjuk aber hat dunkelblondes Haar. Journalisten finden außerdem eine polnische Liste mit 43 Namen von Treblinka-Wächtern. Demjanjuk ist nicht dabei. Aber Martschenko. Demjanjuks Schwiegersohn treibt ein Hochzeitsfoto von Martschenko auf; es wird zum Beweismittel, denn Martschenko sieht Demjanjuk bis auf die Haarfarbe ähnlich. Dann tauchen noch Aussagen von mehr als 20 Wachmännern und Zwangsarbeiterinnen auf, die Iwan Martschenko als Betreiber der Gaskammer identifizierten.
 
Nach all dem weiß der israelische Staatsanwalt Michael Shaked, dass er selber nachermitteln muss. Er recherchiert in russischen und in deutschen Archiven. Als er nach Israel heimkehrt, hat er im Gepäck Aussagen von 37 Zeugen, die Martschenko als den Operateur der Gaskammern in Treblinka identifizieren. Dazu hat Shaked eine Kopie von Marchenkos Personalbogen und weiß, dass der KGB lange nach ihm als Kriegsverbrecher gesucht hatte. Es spricht alles dafür, dass Marchenko der berüchtigte "Iwan der Schreckliche" war. Und Demjanjuk? Für seinen Aufenthalt in Treblinka gibt es keine Hinweise. Auch die Kommandanten des Lagers können sich nicht an ihn erinnern. Aber für Demjanjuks Rolle in Sobibor hat Shaked neue Indizien gefunden. Viele davon sollen nun auch in München als Beweismittel dienen.
 
Shaked versucht nun, Demjanjuk wegen seiner mutmaßlichen Taten in Sobibor zur Verantwortung zu ziehen: "Wenn dieser Mann auch nur ein Kind in die Gaskammer geschoben hat, besteht irgendein Zweifel daran, ob er zur Verantwortung gezogen werden muss?" Aber das Revisionsgericht lehnt ab, Demjanjuk wegen Sobibor zu verurteilen - letztlich eine politische Entscheidung: Der israelische Generalstaatsanwalt wollte kein neues Verfahren führen, der Oberste Gerichtshof stützt diesen Kurs. Das wichtigste Argument: Niemand dürfe wegen derselben Sache zwei Mal angeklagt werden - und Sobibor sei auch Teil des ersten Prozesses gewesen.
 
Der vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs ließ zwar durchblicken, dass er es für wahrscheinlich halte, dass Demjanjuk "Hilfswilliger" der Nazis war. Aber: "Wachmann gewesen zu sein, ist nicht das Verbrechen", sagte er. "Sondern Völkermord."
 
Demjanjuk wird freigesprochen und verlässt am 22. September 1993 Israel an Bord einer El Al-Maschine in der Business Class. 1998 erhält er seine US-Staatsangehörigkeit zurück. Ein Foto aus dem Flugzeug von Israel zurück in die USA hat sich Demjanjuks Sohn John rahmen lassen. Es steht heute in seinem Büro.
 
© SPIEGEL ONLINE 2008

20.5.09

"Die DDR war vom Anfang bis zum Ende eine Diktatur"

INTERVIEW MIT HISTORIKER WINKLER
Gesine Schwan hält die DDR nicht für einen Unrechtsstaat - der Begriff sei zu diffus. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview widerspricht der Historiker Heinrich August Winkler der SPD-Präsidentschaftskandidatin - und fordert von den Westdeutschen mehr Sensibilität für das ostdeutsche Befinden.
 
SPIEGEL ONLINE: Herr Prof. Winkler, die SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan lehnt den Begriff des Unrechtsstaats für die DDR ab - er ist ihr zu diffus. Teilen Sie ihre Ansicht?
 
Heinrich August Winkler: Ich glaube, der Begriff Unrechtsstaat lässt sich klar definieren. Ein Unrechtsstaat ist nach meiner Überzeugung gegeben, wenn in einem Land die Menschen- und Bürgerrechte nicht gewährleistet sind, wenn keine Gewaltenteilung, also auch keine unabhängige Justiz existiert - wenn man also sein Recht nicht einklagen kann und auch keine Möglichkeit hat, in freien Wahlen gegen die Regierung zu stimmen. Alle diese Vorraussetzungen waren in der DDR nicht gegeben - also würde ich die DDR als Unrechtsstaat bezeichnen. Der Unrechtsstaat beginnt nicht mit der systematischen Menschenvernichtung, er beginnt mit der Vorenthaltung der Menschen- und Bürgerrechte.
 
SPIEGEL ONLINE: Frau Schwan hat also Unrecht?
 
Winkler: Ich widerspreche ihrer Auffassung.
 
SPIEGEL ONLINE: Der brandenburgische SPD-Ministerpräsident Platzeck ist von der Diskussion genervt - und lehnt sie als Schwarz-Weiß-Debatte ab. Kann man diese Diskussion führen, ohne die Grautöne in der DDR zu berücksichtigen?
 
Winkler: Platzeck sagt ebenso wie Frau Schwan eindeutig, dass die DDR kein Rechtsstaat war. Natürlich gab es in der DDR auch formal korrekte Rechtsbereiche, wenn man an die Straßenverkehrsordnung denkt, das Familienrecht oder die Gleichstellung von Mann und Frau…
 
SPIEGEL ONLINE: ...worauf sich Frau Schwan bei der Bitte um Differenzierung bezogen hat.
 
Winkler: In diesem Punkt hat sie Recht. Aber auch im "Dritten Reich" bestanden Rechtsgrundlagen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik fort. Da gab es in einem vorpolitischen Bereich noch korrekte Gerichtsurteile, solange keine vitalen Interessen des Regimes berührt waren. Trotzdem würde niemand deswegen auf die Idee kommen, für die ganz anders geartete Diktatur des Nationalsozialismus den Begriff Unrechtsstaat für tabu zu erklären.
 
SPIEGEL ONLINE: Die Grautöne sind also da,…
 
Winkler: …was völlig unstrittig ist. Aber man muss unterscheiden, ob man vom Regime oder von den Menschen spricht. Ich glaube, genau das bezweckt Platzeck. Das Regime war eine menschenverachtende Diktatur. Damit ist kein Urteil über die Menschen gefällt, die unter diesem Regime leben mussten. Was sie diesem Regime - unter widrigen Umständen - abgetrotzt haben, das verdient großen Respekt. Und vor allem natürlich der immense Mut der Bürgerrechtler, die das System im Herbst 1989 im Rahmen einer ost-mitteleuropäischen Revolution mit zum Einsturz brachten.
 
SPIEGEL ONLINE: Das ist also das sogenannte richtige Leben im falschen Staat?
 
Winkler: Man konnte auch in einem solchen Regime große persönliche Leistungen erbringen. Und: Man konnte persönlich anständig bleiben. Wenn man es wagte, nach dem eigenen Gewissen zu handeln und sich Spitzeldiensten für die Stasi zu verweigern. Das haben die allermeisten getan.
 
SPIEGEL ONLINE: Respekt vor dem Leben in der DDR - dieser Aspekt scheint vielen Ostdeutschen in der Debatte zu kurz zu kommen.
 
Winkler: Deswegen kommt es darauf an, differenziert darüber zu sprechen. Dass Regime und Bevölkerung eins seien, das ist die Schutz-Behauptung jedes totalitären Regimes - und das war die DDR dem Anspruch nach, weil sie einen neuen Menschen schaffen wollte und den ganzen Menschen für sich beanspruchte. Dass die Wirklichkeit anders aussah, wissen wir.
 
SPIEGEL ONLINE: Muss man nicht ohnehin zwischen der frühen DDR unter Ulbricht und der späten DDR in den Achtzigern unterscheiden - sonst hätte die Oppositionsbewegung doch gar nicht entstehen können?
 
Winkler: Man muss den geschichtlichen Ablauf differenziert sehen. Unter dem Druck der KSZE-Schlussakte von 1975 konnten deren Menschenrechtsversprechungen von Bürgerrechtlern in den Staaten des Warschauer Paktes genutzt werden; am frühesten und stärksten in Polen, wo durch die Gründung der unabgängigen Gewerkschaft Solidarnosc im Sommer 1980 jene friedliche Revolution begann, die dann 1989 große Teile von Ostmittel- und Südosteuropa erfasste. Deshalb muss man immer sagen, von welcher Zeit die Rede ist. Aber es bleibt dabei: Dem Anspruch nach war die DDR vom Anfang bis zum Ende eine menschenverachtende Diktatur. Ein System, das all jene, die sich ihm durch Flucht entziehen wollte, massiv bedrohte. Viele derer, die versuchten, die Mauer und den Stacheldraht zu überwinden, wurden von Grenzschutz-Organen aufgrund des Schießbefehls der DDR getötet.
 
SPIEGEL ONLINE: Schwans Äußerungen werden von manchen Sozialdemokraten wie dem Bundestagsabgeordneten und Ex-Bürgerrechtler Stephan Hilsberg als Anbiederung an die Linke vor der Bundespräsidentenwahl verstanden. Stimmen Sie dem zu?
 
Winkler: Ich will nicht über die Motive - etwa von Erwin Sellering, SPD-Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der die neueste Unrechtsstaat-Debatte ausgelöst hat - spekulieren. Nachdem die Diskussion begonnen hat, ist es wichtig zu klären, was wir unter Diktatur und Unrechtsstaat verstehen. Insofern ist diese Debatte nicht überflüssig.
 
SPIEGEL ONLINE: Also gehört das Thema auch in den Wahlkampf?
 
Winkler: Man sollte Fragen, die in der öffentlichen Diskussion sind, nicht aus einem Wahlkampf ausklammern. Es gibt keine Rede- und Denkverbote. Und diejenigen, die der Partei "Die Linke" und ihrer halben DDR-Apologie nicht das Feld überlassen wollen, werden dieser Debatte nicht ausweichen können.
 
SPIEGEL ONLINE: Dann sollten aber auch alle mitdiskutieren dürfen. Mancher ostdeutsche Politiker wie Thüringens SPD-Chef Matschie hätte am liebsten, dass dies nur ehemalige DDR-Bürger tun.
 
Winkler: Wir leben in einem vereinten Deutschland. Das Denken in den Kategorien "wir" und "die", "hüben" und "drüben", muss überwunden werden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit der zweiten deutschen Diktatur ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Allerdings müssen die Westdeutschen schon versuchen, sich in die Ostdeutschen zur Zeit der Teilung hineinzuversetzen. Nur dann können sie einigermaßen gerecht sein bei dem Bemühen, zwischen Regime und Bevölkerung zu unterscheiden.
 
Das Interview führte Florian Gathmann
 
 
© SPIEGEL ONLINE 2009

19.5.09

Mehr rechtsradikale Straftaten

 Verfassungsschützer registrieren drastisch mehr rechtsradikale Straftaten
 
Die Zahl rechtsradikaler Straftaten in Deutschland hat deutlich zugenommen. Nach ersten Informationen aus dem neuen Verfassungsschutzbericht gab es 2008 rund 20.000 Fälle, darunter viele Gewalttaten - 16 Prozent mehr als im Vorjahr.
 
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm stellen den Bericht am Vormittag in Berlin vor. Nach "Bild"-Informationen enthält er dramatische neue Daten über Neonazi-Aktivitäten in Deutschland: Die Zahl der rechtsradikal motivierten Straftaten ist der Zeitung zufolge stark angestiegen.
 
20.000 Fälle seien 2008 von der Polizei gezählt worden, darunter mehr als 1000 Gewalttaten. Das sind fast 16 Prozent mehr als im Vorjahr.
 
Als besonders gefährlich gelten die autonomen Nationalisten, die bei Aufmärschen als schwarzer Block auftreten und häufig in Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten verwickelt sind.
 
Der Bericht wird auch die neuesten Erkenntnisse der Verfassungsschützer über die NPD enthalten. Die SPD-Landesinnenminister waren schon vor zwei Wochen vorgeprescht und hatten eine eigene Materialsammlung vorgelegt, um für einen neuen Anlauf zu einem NPD-Verbot zu werben. Schäuble hatte den Vorstoß zurückgewiesen.
 
Gegenstand des Verfassungsschutzberichtes ist auch die extremistische linke Szene sowie die Gefahr durch Terroristen. Dem "Bild"-Bericht zufolge wird außerdem vor einer zunehmenden Gefahr durch islamische Fundamentalisten gewarnt.
 
Muslimische Gruppen wie Milli Görüs und die Muslimbruderschaft wollten hierzulande Regeln der islamischen Scharia verbreiten, heißt es im Verfassungsschutzbericht demnach. Als Gefahr genannt würden explizit Einwanderer der zweiten Generation und radikale Konvertiten aus Deutschland, die nach Pakistan reisen, wo das Terrornetzwerk al-Qaida und andere radikale Gruppen Planungs- und Ausbildungsstützpunkte unterhalten.
 
Das "Handelsblatt" hatte schon am Montag Passagen aus dem Verfassungsschutzbericht zur Internet-Spionage veröffentlicht, denen zufolge deutsche Unternehmen und Regierungsstellen zunehmend zum Ziel von Hackern werden, die im Auftrag ausländischer Geheimdienste arbeiten. "Hauptträger der Spionageaktivitäten in Deutschland sind derzeit die Russische Föderation und die Volksrepublik China", zitiert das Blatt aus dem Bericht.
 
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Victor W.

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